Bilder voller Geschichten und Geheimnisse


Über die Malerei von Milton Camilo


von Anne-Kathrin Reif




Menschen – auf allen Bildern von Milton Camilo sind Menschen zu sehen, selten Erwachsene, meistens Kinder. Es sind zum überwiegenden Teil keine klassischen Porträts, und doch sagt Camilo: „Ich würde nie jemanden malen, von dem ich nichts weiß“. Alle diese Kinder in seinen Bildern gibt es wirklich, und jedes trägt seine Geschichte mit sich. Am Ende ist es die Geschichte, die ihn interessiert, nicht die Äußerlichkeit.


Am Anfang ist es immer eine reale Begegnung, die den Impuls zu einem Bild gibt, das im Arbeitsverlauf dann seine eigene Dynamik entwickelt: „Manchmal erzählen die Kinder etwas, das irgendetwas in mir auslöst, manchmal entsteht über längere Zeit eine Vertrautheit, und manchmal liegt alles schon in einem Blick“, beschreibt Camilo diesen Impuls. Genau das ist es, was ihm bei den Erwachsenen fehlt: „Ich kann Erwachsene nicht sehen“, sagt er. Männer noch weniger als Frauen. „Bei Kindern kann ich diese Augen verstehen. Bei Männern sehe ich nicht, was darin steckt.“ Der Blick der Kinder ist unverstellt. Angst ist Angst, Glück ist Glück. Wenn er malt, taucht Camilo ein in ihre Welt. Ihre Geschichten mischen sich mit seinen eigenen, eine Erinnerung oder ein altes Familienfoto katapultieren ihn zurück in die eigene Kindheit in Brasilien, wo er sehr frei aufwuchs, umgeben von einem riesigen Garten und seinen geliebten Tieren. „Sieben Katzen, Hunde, ein Affe, eine Ente und sogar eine Eule“, zählt Camilo auf. „Ich habe mir immer für mein gesamtes Taschengeld Tiere gekauft.“ Nicht zufällig finden in jüngster Zeit immer mehr Tiere Eingang in seine Bilder. Je mehr sich der Maler und Tänzer Milton Camilo mit seiner eigenen Herkunft beschäftigt, umso mehr fließen auch jene Themen in die Bilder ein, die seine eigene Kindheit geprägt haben. Die Geschichte der Sklaven und der Indianer, das schlichte Christentum der einfachen Leute, eine große Spiritualität bis hin zum Geisterglauben – all das hat Spuren in seiner Biografie hinterlassen, die ihn bis heute prägen.


Milton Camilos Malerei ist figurativ und gegenständlich – dennoch ist sie niemals eindeutig. Die Geschichten, die darin stecken und die vielleicht einmal den Impuls zum Bild gegeben haben, lassen sich vom Betrachter nicht leichthin wieder herauslesen. Wenn es eine zusammenhängende Erzählung gab, dann ist sie im Gemälde in vielgestaltige Einzelbilder von Figuren, Gegenständen, Pflanzen und Tieren zerfallen, die gleichwohl auf rätselhafte Weise miteinander verbunden sind – wie jene Bilder, die nach dem Erwachen aus einem Traum im Gedächtnis geblieben sind; ein Traum, der seinen Zusammenhang verloren hat aber seine ganz eigentümliche Atmosphäre deutlich spürbar zurücklässt. Vielleicht entspricht dieses seltsame Konglomerat der Dinge aber auch der Perspektive des Kindes, in dessen Welt täglich neu unzählige Wahrnehmungen stürzen, die sich noch keinem sinnvollen Zusammenhang unterordnen lassen. Dem die Welt noch ein unübersehbarer, geheimnisvoller und verheißungsvoller Ort ist, den es noch zu entdecken gilt, der zugleich lockt und ängstigt.


Es ist diese stark emotional aufgeladene und zugleich ungreifbare Atmosphäre in den Bildern von Milton Camilo, welche den Betrachter unmittelbar in ihren Bann zieht. Ein Geheimnis steckt in den Bildern, das etwas in ihm zum Klingen bringt und ihn ins Bild hineinlockt, von dem er aber zugleich ahnt, dass er es nie vollständig wird lüften können. So, wie man auch in die eigene Kindheit nicht zurückkehren kann. Milton Camilo verklärt diesen Raum der Kindheit in seinen Bildern nicht nostalgisch zu einem heilen Ort voller Unbeschwertheit – dafür blicken die Kinder in seinen Bildern den Betrachter viel zu ernst und wissend an. Aber häufig liegt ein Hauch von Melancholie in ihnen und eine unbestimmte Sehnsucht. Etwas von dem, was in Brasilien „Saudade“ heißt: „Es ist das Vermissen von etwas, von dem man weiß, dass man es niemals wiederhaben kann“, erklärt Camilo dieses ganz spezifische Gefühl.


Zugleich ist seine Malerei kraftvoll, vital, oft von expressivem, gestischen Duktus und mutiger Farbgebung. Milton Camilo kam erst spät zur Malerei, als er krankheitsbedingt in seiner Karriere als Tänzer pausieren musste. Heute sind der Tanz und die Malerei für ihn gleichberechtigte künstlerische Ausdrucksformen. Die Körperlichkeit des Tänzers schlägt sich auch in seiner stark gestischen Malerei nieder, die sich keinem Stil unterordnet, und die stets aus großer innerer Freiheit schöpft: Da können Dinge auf dem Kopf stehen, Perspektiven sich verschieben oder Hände und Füße viel zu groß geraten. Gerade diese Deformation der Gliedmaßen ist fast schon zu einem Erkennungszeichen seiner Figuren geworden. Einerseits bricht sich darin eine Eigendynamik der Malerei Bahn – zugleich offenbart sich darin aber auch das zutiefst humane Menschenbild von Milton Camilo, das sich durch sein gesamtes Schaffen zieht: „Da können einer Hand zwei, drei Finger fehlen oder ein Fuß kann zu groß und seltsam verdreht sein – und das alles, ohne dass der Mensch im Bild seine Schönheit verliert“, sagt er.


Milton Camilo zeichnet eine seltene Doppel- und Dreifachbegabung aus: als Tänzer, als Maler – und als Pädagoge. Denn die Kinder und ihre Geschichten, aus dem der Stoff seiner Bilder ist, ihre Sorgen, Ängste, Träume, ihre psychischen und physischen Deformationen sind das, was ihn in seiner Arbeit als Tanzpädagoge an Schulen, in sozialen Brennpunkten und mit Flüchtlingskindern täglich umgibt. Schon als Jugendlicher hat er in seinem Heimatland Brasilien im Krankenhaus auf einer Kinderstation gearbeitet. „Der Umgang mit dem Schmerz der Kinder hat mich für die Liebe zu den Menschen geöffnet“, sagt er. „Plötzlich war ich in die Menschen verliebt.“

Es ist diese Menschenliebe, welche die Haltung von Milton Camilo als Künstler spürbar prägt, und die sich demjenigen, der seine Bilder mit offenem Herzen betrachtet, unwillkürlich mitteilt.