Wir versuchen oft etwas zu sein, was
wir nicht sind.
Milton Camilo im Gespräch mit Dr. Marc Wagenbach
Wie bist Du zur Malerei gekommen?
Nach einer Operation am Rücken musste ich lange liegen. Ein Freund schlug mir damals vor gegen die Langeweile etwas zu malen. Ich war 33 Jahre alt und hatte nie zuvor gemalt. Also fragte ich mich, was ich denn überhaupt malen wolle, wenn ich damit begänne. Schnell war klar, dass ich Menschen malen wollte. Dann überlegte ich, wie ich sie malen könne. In der Schule war ich war sehr gut in Mathematik - besonders in Geometrie. Dort hatte ich gelernt, dass eine erwachsene Person in acht Kreise, also acht Köpfe zu zerlegen ist. Ein Kind in sechs Kreise. Das fand ich sehr lustig. Und dann habe ich die Kreise einfach mit Linien verbunden.
Wie ging es dann weiter?
Anfänglich fand ich meine Sachen nicht gut und habe sie versteckt. Ich war ja kein richtiger Maler. Ich habe mir erst nach drei Jahren erlaubt mich so zu nennen. Ich hatte einen sehr guten Freund, der im Folkwang Museum in Essen gearbeitet hat. Wir haben uns oft getroffen und gemeinsam gegessen. Da ich dachte, ich könne eh nie wieder tanzen, zeigte ich ihm eines meiner Bilder. Und er hat mich sehr darin unterstützt weiterzumachen, weil ihm gefiel, was ich tat. Nach diesem Erlebnis habe ich fast jede Woche zwei bis drei Bilder gemalt. Auf einmal fingen die Leute an, meine Bilder zu kaufen. Da spürte ich zum ersten Mal, dass ich ein Maler geworden war. So wie ich zuvor gespürt hatte, Tänzer zu sein. Es hat einfach gestimmt.
Gab es in Deiner Anfangszeit bestimmte Motive, die Du immer wieder aufgriffen hast?
Eine Weile habe ich ein und dieselbe Person gemalt. Oder Kinder, die in meinem Umfeld waren. Dann begann ich Familienporträts anzufertigen. Besonders gut gefielen mir dabei die braune Haut der Brasilianer und ihre ganz eigene Schönheit. Vor allem der Kontrast zur Hautfarbe europäischer Menschen, hat mich fasziniert.
Wann erweiterte sich Dein Sujet?
Anfänglich malte ich einfach eine Person auf einem Hintergrund. Es gab aber keinen Boden oder irgendwelche Gegenstände. Dann habe ich ein Porträt von Dorothea, einer guten Freundin gemalt. In Ihrem Zimmer gab es diesen besonderen Teppich. Ich weiß nicht warum, aber ich integrierte den Teppich und den Tisch in mein Bild. Das war das erste Mal, dass ich ein Detail in eines meiner Bilder aufgenommen habe. Und direkt danach habe ich das Bild mit dem Bett gemalt. Bei diesem Bild war mir völlig klar, dass ich nicht das Bett an sich, sondern das Licht malen wollte. Das ist eines der wenigen Bildern, die ich mit Tageslicht gemalt habe. Ich war einfach sehr fasziniert von der Dichte der Patchwork- Decke. Und Schritt für Schritt sind neue Elemente dazu gekommen.
Was ist spezifisch für Deine Arbeitsweise?
Es gab ja direkt zu Beginn meiner Arbeit die Vergrößerung der Körperteile. Und mit der Zeit hat sich dies Deformation der Glieder fortgesetzt. Ich fragte mich, warum kann ein Fuß nicht einfach blau sein? Oder es fehlen mal zwei, drei Finger. Oder der Finger geht zur Seite, ist abgewinkelt. Und das alles, ohne dass der Mensch im Bild seine Schönheit verliert.
Warum malst du Kinder?
Ich male Kinder, weil sie für mich mit dem Potential verbunden sind, etwas aus dem Leben zu machen. Dafür müssen wir Ihnen aber zuhören. Die meisten Menschen, die ich kenne, nehmen die Gedanken der Kinder gar nicht wahr. Wenn Du aber eng mit ihnen zusammenarbeitest, hörst Du, was sie wahrnehmen und fühlen. Sie sorgen sich um die Welt.
Die Kinder?
Ja. Erwachsene sprechen nicht oft über die Dinge, die ihnen Angst machen. Aber Kinder sprechen über alles miteinander und diskutieren darüber. Ich war letztens in einer Schule, und da hat ein Kind mit einem anderen gesprochen und meinte: „Weißt Du, es gibt bald Krieg in Deutschland.“ Und das waren Sieben- oder Achtjährige. Und das andere Kind erwiderte: „Ja, dann geht alles kaputt, auch die Schule.“ Ich habe sie dann gefragt, woher sie diese Informationen haben. Und sie sagten: „Wir spüren das. Wir haben Angst.“
Das sagen sie dann so offen zu Dir?
Ja, wenn ich nachfrage. Durch die Gespräche mit Kindern, bekommt man eine andere Sicht auf die Welt. Ich fühle mich sehr privilegiert, dass ich mit Kindern arbeiten darf. Ich kannte das Arbeiten mit Kindern ja bereits in Brasilien.
Wie würdest du Deine eigene Kindheit beschreiben?
Ich war ein sehr freies Kind und mit sechs Jahren schon häufig allein zuhause, da meine Mutter arbeiten musste. Mit acht Jahren habe ich bereits angefangen zu kochen. Ich bin nach der Schule nach Hause gekommen und war den Rest des Tages in unserem riesigen Garten. Dort fühlte ich mich beschützt. In Rio de Janeiro kümmerten sich auch meine Nachbarn um mich. Sie waren immer da. Wenn jemand Fremdes in der Nähe war, hat man auf mich aufgepasst. Ich fühlte mich nie allein und konnte machen, was ich wollte. Ich hatte nie das Gefühl eingeschränkt zu sein. Anders, als in der Schule, die ich hasste. Ich habe mich erst für die Schule interessiert, als ich entschloss, Tierarzt zu werden. Ich mochte Menschen damals nicht besonders, liebte aber Tiere. Wir hatten zuhause sieben Katzen, Hunde, einen Affen, eine Ente und sogar eine Eule. Ich habe mir immer für mein gesamtes Taschengeld Tiere gekauft. Und meine Mutter hat das alles mitgemacht. Das war schon irgendwie verrückt. Vielleicht tat sie es, weil sie mich erst mit 40 Jahren bekommen hat. Mein Bruder war schon fast erwachsen bei meiner Geburt.
Das klingt nach einer ungewöhnlichen Kindheit.
Ich glaube, das war mein Glück. Es war gut, dass mich nicht ständig jemand bemutterte. Obwohl ich denke, dass es für meine Mutter, da sie sehr konservativ war, schlimm gewesen ist, sich nicht so oft um mich kümmern zu können, wie sei es gerne gewollte hätte. Ich hingegen fand toll, das machen zu können, was ich wollte. Manchmal habe ich sogar das ganze Haus umgestellt, wenn sie weg war. Einmal habe ich mit einem Freund alles weiß gestrichen und die Möbel verschoben. Das Wohnzimmer war plötzlich im Schlafzimmer. Und das Schlafzimmer im Wohnzimmer. Meine Mutter störte es nicht. Sie liebte mich wie ich war.
Wann hast Du angefangen mit Kindern zu arbeiten?
Mit 14 fing ich an nebenbei als Pfleger in einem Krankenhaus zu jobben. Ich war zart und unbedarft wie eine Blume und hatte keine Ahnung was auf mich zukommen würde. Es war furchtbar. Der Gestank. Eine Mischung aus Scheiße, Pippi und Fleisch, das eitert. Es war zum Kotzen. Und ich, dieses Blümchen, war in der Hölle. Ich habe nur gedacht, ich will hier wieder weg. Glücklicherweise kam in diesem Moment ein junger Pfleger zu mir und nahm mich mit auf die Kinderstation. Und da waren auch Kinder mit Brandwunden. Der Pfleger war ein sehr lieber Kerl und zeigte mir, wie man die Wunden sauber macht. Mir war klar, wenn ich das jetzt nicht mache, wird es niemand machen. An diesem Tag habe ich gelernt, auch die schlimmen Dinge mit Humor zu nehmen. Weil die Kinder vor der Reinigung ihrer Wunden immer Angst hatten, versuchte ich es spielerisch zu machen. Diese schwierige Aufgabe und der Umgang mit dem Schmerz der Kinder, haben mich für die Liebe zu den Menschen geöffnet. Plötzlich war ich in die Menschen verliebt. Ich war 14 Jahre alt und sah diesen kranken, tapferen Kindern beim Spielen zu. Und ich wusste, dass einige von ihnen sterben würden. Als ich dann das erste Kind verlor, wollte ich dort nicht mehr arbeiten. Ich wechselte dann auf eine Station für erwachsende Frauen.
Wurde es leichter für Dich?
Auch diese Aufgabe war nicht frei von Leid. Wenn man mit jemand zusammen ist, der nicht sterben will und dann stirbt – vor allem wenn es ein junger Mensch ist – verändert einen diese Erfahrung elementar. Es hat mich immer wieder berührt, wenn Kranke gehen mussten und sich mir in ihrer vollkommenen Menschlichkeit zeigten. Ich habe diesen Job sehr geliebt. Ich wusste, dass dies meine Aufgabe war. Meine Begabung. Ich bin gut mit Menschen.
Es ist interessant, was Du über die Kinder gesagt hast. Dass sie wissen, was um sie herum passiert. Auch wenn wir denken, sie verstehen es nicht. Dieses Verständnis von Welt, das sie innehaben.
Kinder akzeptieren einfacher als Erwachsene. Es gab auch Eltern, die wollten, dass ihr Kind weiß, dass es bald sterben wird. Ein Kind versteht sehr gut, dass es bald nicht mehr hier sein wird, wenn man es ihm erklärt. Natürlich leidet es - verliert es doch Mama und Papa, aber irgendwann nimmt es sein Schicksal an. Kinder leben jeden Tag, als wäre es der letzte. Bei Erwachsen ist es anders. Da gibt es oft Gefühle von Schuld. Oder auch Beziehungen, die man nicht geklärt wurden.
Und was ist, wenn Du Erwachsene malst?
Das ist schwieriger für mich. Es muss schon jemand sein, den ich kenne. Ich muss wissen, dass ich die Wahrheit über die jeweilige Person sagen darf. Denn darum geht es mir bei der Malerei. Außerdem finde ich es schwierig, die wahre Person in einem Erwachsenen zu erkennen. Die meisten Erwachsenen, die ich kenne, interessieren mich nicht so sehr als Sujets für meine Bilder. Ich finde sie langweilig. Erwachsenen lügen oder spielen eine Rolle. Wir haben unsere Unschuld verloren. Warum können wir nicht wir selbst sein, ehrlich sein? Mit Kindern hast du diese Probleme nicht. Sie sind dick, dünn, fröhlich oder traurig. Es ist ganz einfach.
Warum malst Du jetzt Tiere?
Wenn man sich meine Bilder chronologisch anschaut, merkt man ganz deutlich, dass immer ein weiteres Element hinzugekommen ist. Erst gab es den Stuhl und den Teppich im Portrait. Dann das Bild mit dem Bett, wo das Kind fast nicht mehr zu sehen ist. Vor zwei Jahren habe ich dann angefangen die Natur mit einzubeziehen. Und letztes Jahr kamen sie Tiere. Für mich hat jedes Individuum ein Tier, das sie oder ihn begleitet. Ich frage mich beim Malen, welches Tier ordne ich dieser Person zu, um ein bestimmtes Gefühl auszudrücken.
Wann war klar für Dich, dass Du als Künstler bei Dir angekommen bist?
Ich hatte sehr lange mit Ängsten zu kämpfen, die mit dem Rassismus, dem ich als Farbiger in Brasilien ausgesetzt war, zu tun haben. Ich traute mich auch in Deutschland nicht in ein Restaurant zu gehen. Als ich mich 2007 von meinem damaligen Partner trennte, geschah etwas Seltsames. Die Enttäuschung über ihn nahmen mir auf seltsame Art und Weise meine Angst. Es gab da diesen einen Moment, nachts im Park, der mir zeigte, wie sehr ich mich verändert hatte. Ein paar Punks pöbelten mich an: „Hey, Nigger. Hast du keine Angst hier allein zu sein?“ Ich sagte einfach nur „Nein, denn ihr wisst ja gar nicht, wer ich bin und was ich in meiner Tasche habe. Ihr solltet Angst vor mir haben“. Und dann haben sie mich akzeptiert. Einfach so. Es befreite mich von all den Missverständnissen in meinem Kopf. Von da an wusste ich, dass ich es bin, der über mein Leben entscheidet und niemand sonst. Ich war ein Maler.
Was ist Deine Aufgabe als Künstler und welche Funktion hat die Kunst in Deinem Leben?
Als Künstler bin ich Mediator zwischen den Welten. Und es ermöglicht mir, mich mit meinen inneren Dämonen auseinander zu setzen. Es ist meine Art mich auszudrücken, mein Innerstes zum Sprechen zu bringen. Die Kunst verbindet mich mit Allem.